Eine vom Rummel
Schausteller wird man nur, wenn man dazu geboren ist. Die Noacks sind der Beweis
Im Hintergrund leuchtet der Ayers Rock, Australiens berühmter Felsen, rot in der Sonne, und ein kleines Känguruh hüpft in der Landschaft herum, damit auch wirklich jeder mitkriegt, daß es sich um Australien handelt. Vorn steht ein riesiger, chromblinkender Truck mit dem Schriftzug "Noack-Transporte" im Bild; darunter ist in großen Buchstaben aufgemalt: "Adelaide-Potsdam-Berlin".
Das Kunstwerk schmückt die Dachverkleidung von Ricardo Noacks Auto-Scooter. Ein Hauch von weiter Welt, ein unverwirklichter Lebenstraum? Das Leben ist viel prosaischer, als man denkt, selbst auf dem Rummel. Der Schöpfer des Werkes war ganz einfach Australier von Geburt, vielleicht kannte er sich in den Gegenden, die Ricardo Noack gewöhnlich bereist, nicht so gut aus wie in seiner fernen Heimat. Und ein bißchen Illusion gehört ja auch zum Geschäft.
Ricardo Noack gefällt das Bild jedenfalls. Obwohl er nie in Australien war. Schausteller sind immer unterwegs, doch zum Verreisen bleibt selten Zeit. Letztes Jahr ist er mal in Österreich gewesen, eine Woche lang. Es war die erste und einzige Auslandsreise in seinem Leben, wenn man von der Jugendtourist-Tour in die Sowjetunion absieht, die er zur Jugendweihe geschenkt bekam. Aber das ist schon lange her. Jetzt ist er 34.
"Die Fahrchips eindrücken bitte", fordert eine Lautsprecherstimme, und die kleinen Elektroautos mit den dicken Gummiwülsten ringsum erwachen zu plötzlichem Leben. Dreißig Meter lang und fünfzehn breit ist die Fläche, auf der mehr als 20 Wägelchen umherhuschen. Adelaide-Potsdam-Berlin. Die Chauffeure, meist minderjährig, genießen die automobile Freiheit ohne Führerschein. Der Crash ist unverzichtbarer Teil des Vergnügens: Wer im Weg steht, wird weggerempelt. Fast wie im richtigen Leben.
Ricardo Noack sitzt in der gläsernen Kanzel an der Stirnseite, die Kassenhäuschen, Schaltwarte und Kommandozentrale zugleich ist. Drei Mark kostet die Fahrt. Den Scooter hat er vor zwei Jahren gekauft, eine High-Tech-Maschine, und auch so teuer. Der Preis hatte "sechs Nullen", vor dem Komma. Die sechs Nullen muß er nun nebst Zinsen bei der Bank abarbeiten, dreimarkweise gewissermaßen. Und da sind noch nicht die zwei Leute bezahlt, die er angestellt hat, und keine Platzmiete und kein Strom. Manchmal, gesteht Ricardo, schläft er ziemlich schlecht, wenn er an seine Schulden denkt: "Is ja viel Geld."
Wenn der Weihnachtsmarkt vorbei ist, bleiben ihm ein paar Tage Zeit zum Feiern und ein Monat für die dringendsten Reparaturen an seinem Gerät; das reicht gerade so. Im Februar muß es wieder losgehen. Aufbauen, abbauen, umsetzen, aufbauen. Dreißigmal im Jahr, manchmal auch öfter. Zwölf Stunden Arbeit am Tag, kein Sonntag, kein Ostern, kein Pfingsten, kein Feiertag. Leben ist Arbeit, Arbeit ist Leben. Die Grenzen sind fließend. Ein Alptraum für jeden, der nachmittags um vier seine Karte in die Stechuhr steckt und weiß, daß er Feierabend hat. Jeden Nachmittag um vier an der Stechuhr zu stehen, sagt Ricardo, wäre sein Alptraum.
Ricardo ist auf dem Rummel groß geworden, wie seine drei Schwestern, die inzwischen ebenfalls ihre eigenen Geschäfte betreiben. Zum Schausteller muß man geboren sein. Behaupten die Schausteller. Aber es scheint irgendwie zu stimmen. Fast immer sind es wie bei den Noacks reine Familienbetriebe, von Generation zu Generation weitervererbt. Und Kinder von Schaustellern werden immer wieder Schausteller. Man muß hineingewachsen sein in diese Welt, um in ihr leben zu können. "Ein Schausteller kann Bürgermeister werden", sagt Jacqueline, die älteste der drei Noack-Schwestern, philosophisch, "aber ein Bürgermeister kann nicht Schausteller werden."
Nicole, mit 29 Jahren die jüngste der Sippe, steht gleich nebenan. Ihr Unternehmen ist ganz und gar untechnisch: Man muß einen hölzernen Ring über den angestrebten Gewinn schleudern, eine Flasche Sekt "Graf Dietrich" etwa oder einen perlmuttschillernden Porzellanelefanten. Doch die Gewinne stehen auf viereckigen Holzfundamenten, und wenn der Ring sich nicht über alle Ecken legt, hat man sich zu früh gefreut.
Ein Ring kostet eine Mark, 22 Ringe nur zehn Mark. Das eher triviale Spiel erfreut sich gewisser Beliebtheit, vor allem bei der älteren Jugend. "Die kennen das noch aus der DDR", vermutet Nicole. Damals allerdings war das Interesse mehr materiell ausgeprägt, die aufgestellten Raritäten rechtfertigten fast jeden Einsatz. Heute, da es so gut wie alles zu kaufen gibt, ist der Anreiz eher sportlicher Natur.
Weil man vom Ringewerfen allein aber nicht leben kann, betreibt Nicole ein Stück weiter noch eine Glühweinbude. Man muß flexibel sein. Gesoffen wird immer, und sei es, weil den Leuten einfach nur kalt ist. Überdies besitzt sie auch noch eine Schießbude, aber die wollten sie auf dem Weihnachtsmarkt nicht haben. Weihnachten wird nicht geschossen, nicht mal auf Blumen.
Beatrix und Jacqueline, die beiden anderen Schwestern, verkaufen Süßwaren. Kandierte Äpfel, gebrannte Mandeln, Zuckerwatte, Lebkuchen. Bis auf die Herzen mit den herzigen Sprüchen wie "Für meinen Schatz" oder, etwas unverbindlicher, "Frohe Weihnachten", ist alles selbstgemacht, versichert Beatrix, deren rotglasierte Äpfel dank einer bahnbrechenden Neuerung auch für Gebißträger tauglich sind: Sie läßt einen kleinen Fleck am Apfel ungetaucht, einen Schwachpunkt wie vom Lindenblatt beim gehörnten Siegfried aus der Sage, nur daß man hier später keinen Speer, sondern seine Zähne hineinbohren kann. Der Anfang ist alles.
Wenn es sich einrichten läßt, versuchen die Noacks, gemeinsam auf einem Platz unterzukommen. Nicht nur aus der rein praktischen Erwägung heraus, daß man sich untereinander helfen kann. Auf dem Rummel hilft sowieso jeder jedem, das ist ungeschriebenes Gesetz, für Freund und Feind. Aber sie sind tatsächlich das, was man so "ein Herz und eine Seele" nennt, "ein Clan", wie Mutter Brigitte Noack sagt, die in diesem Clan so etwas wie die Prinzipalin ist, auch wenn die Geschäfte, die sie einst betrieb, längst an die Kinder überschrieben sind. Für alle Noacks ist die Familie der Ruhepunkt inmitten des unsteten Lebens, und "big boss" Brigitte Noack hält ihre Schäfchen beisammen: "Ick bilde mir ein, unentbehrlich zu sein." Deswegen ist sie auch jetzt noch beinahe täglich auf dem Platz, es könnte sein, daß es was zu tun gibt. Meistens gibt es was zu tun. Schausteller gehen nicht in Rente. Jedenfalls nicht so schnell. Ihr Vater hat sich mit 85 zur Ruhe gesetzt.
Zu DDR-Zeiten hatte die Schaustellerfamilie Noack einen festen Standplatz im Kulturpark am Plänterwald, mehr als 20 Jahre lang. Es war nicht die schlechteste Zeit, meint "Gitti" Noack, trotz aller Widrigkeiten, mit denen die Staatsbürokratie und ihre führende Kraft dem suspekten fahrenden Privatunternehmervolk das Leben schwer machte. Man wußte damit umzugehen, man kannte die Listigkeiten, die nötig waren, um Unheil abzuwenden. Und natürlich die richtigen Leute. So kamen sie zurecht.
Seit der Wende weht ein rauherer Wind. Mit den rumpelnden Vergnügungsmaschinen, die die sozialistischen Jahre, tausendmal repariert, überdauert hatten, weil es keinen Ersatz gab, konnte man nur noch Nostalgiker erfreuen. Um mit der glitzernden Westtechnik mitzuhalten, mußten schwindelerregende Summen investiert werden. Der Konkurrenzdruck ist groß. Bei manchen Volksfesten bewerben sich bis zu zehn Schausteller um einen Standplatz, und das, obwohl die chronisch armen Kommunen ihren Haushalt mit astronomischen Mieten für die "Sondernutzung öffentlicher Flächen" aufzubessern versuchen. Platzgelder von etlichen tausend Mark Mark pro Woche sind nicht unüblich. Sie sind beinahe tödlich, wenn es in dieser Woche regnet. Regen ist schlecht fürs Geschäft. Und Kälte. Aber zu heiß darf es auch nicht sein.
Allgemein ist die Situation für die Zunft nicht sehr rosig. Die Leute halten ihr Geld zusammen, formuliert Beatrix vorsichtig, "und Rummel ist ein Luxus, auf den sie zuerst verzichten können". Auf dem Weihnachtsmarkt am Alex merkt man allerdings nichts davon. Das herannahende Fest der Nächstenliebe läßt bei den Besuchern das Geld lockerer in der Tasche sitzen, vermutet Ricardo, und selbst das mieseste Schmuddelwetter vermag hier nichts an der Tatsache zu ändern, daß praktisch immer Betrieb ist. "Von mir aus könnte ewig Weihnachten sein", sagt auch Jacqueline. Im Sommer läuft ihr Geschäft nicht so toll. Wer kauft an einem lauen Juliabend schon Gummibärchen?
Der Weihnachtsmarkt beschert ihnen wenigstens einmal im Jahr einen Standort für mehr als drei, vier Tage, das ist schon fast ein geregeltes Leben. Zwar ziehen die Schausteller schon längst nicht mehr wie ein Wanderzirkus quer durchs ganze Land, sondern. "immer um den Kirchturm rum", wie Harry Wollenschläger, Chef des Berliner Schaustellerverbands, sagt, doch im Falle Berlin kann auch das ziemlich weit sein. Vor allem, wenn die Kinder zur Schule müssen. Trotzdem leben die Noacks nur noch selten in ihren Wohnwagen, auch wenn die über allen Komfort der Welt verfügen. Wenn es sich irgendwie einrichten läßt, fahren sie nach getaner Arbeit lieber wieder nach Hause. Wohnung bleibt Wohnung. Es ist eben alles nicht mehr so wie früher, als man die Mädels rein und die Wäsche von der Leine nahm, wenn der Rummel kam. Die Romantik ist dahin. Das fahrende Volk ist seßhaft geworden.
Quelle: www.berlinonline.de