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Schleswig/Holstein-Kirmes
Hausaufgaben im eigenen Campingwagen: Nadja Horlbeck wird, wenn es irgendwie geht, in die "Stammschule" nach Neumünster gebracht.
70 Schulwechsel bis zum Hauptschulabschluss, keine feste Klasse, aber eine verlässliche Clique und das Gefühl, immer etwas Besonderes zu sein – so beschreibt Andreas Horlbeck die Erinnerung an seine Schulzeit.
Der 41-Jährige ist Schausteller, zurzeit gastiert er mit Familie und seiner Basketballwurfanlage und dem "Greifer" auf dem Wilhelmplatz. Sein Wunsch: Seine Töchter sollen mehr von der Schule haben. Mehr von der Schule – das heißt in diesem Fall weniger Wechsel. Petra Horlbeck, die wie ihr Mann auch in einer Schaustellerfamilie groß geworden ist, hat mit einer weiteren Mutter eine Fahrgemeinschaft gegründet. Jeden Tag pendeln sie mit fünf Kindern von Kiel nach Neumünster zur "Stammschule". In Neumünster sind ihre Familien gemeldet, leben dort während der drei Wintermonate. Über 25 Kinder, die derzeit mit den Eltern auf dem Jahrmarkt zu Gast sind, müssen zu Schule, ein großer Teil wird die zehn Tage in einer in Kiel lernen. "Besser" findet die 14-jährige Tanja die Fahrerei nach Neumünster. Ihre Freunde sehe sie, es gebe eine Klassengemeinschaft, sie gehöre dazu. Nur wenn der Weg nach Neumünster zu weit ist, muss sie in andere Schule, in Heide, Schleswig, Itzehoe etwa. Stützpunktschulen werden die genannt, dort sind die Kinder jeweils für ein paar Tage zu Gast. Zu wenig, um wirklich kontinuierlich lernen zu können.
Ihre Eltern haben dies noch ganz anders erlebt. Schausteller zu sein, war alles, Freunde, Familie alle kamen aus diesem Umfeld und Berührungspunkte mit "Privatleuten" gab es kaum. Und Schule? "Das war nicht so wichtig", sagt Andreas Horlbeck. Klar sei gewesen, dass sie keinen Schulabschluss brauchen. Das Schaustellergewerbe sei Handwerk. Was an Wissen notwendig sei, werde auf dem Platz vermittelt. Und wer erwachsen wurde, übernahm ein Geschäft von den Eltern oder heiratete ein. Schule, das waren oft nicht mehr als die Stempel in einem Heft, mit der die Anwesenheit dokumentiert wurde. Auch heute wird kein Schulabschluss benötigt, um Schausteller zu sein. Schule aber ist anders geworden, sagt Horlbeck, der zugleich Bundes-Schulbeauftragter des Deutschen Schaustellerbundes ist. Gesucht war eine bessere Lösung als der ständige Wechsel. Eine Idee war es, die Schule zu den Kindern zu bringen. "Nicht umsetzbar", so das Fazit. Seit 1997 geht man in Schleswig-Holstein einen anderen Weg mit dem Lernen auf der Reise. Statt in den Klassen nur die Anwesenheit zu bestätigen, gibt es nun ein Schultagebuch, in der die Lehrkräfte das dokumentieren, was durchgenommen wurde. "Kontinuität entsteht aber so lange nicht". Ab dem kommenden Schuljahr soll nun bundesweit ein ganz neues Modell starten: Jeder Schüler hat einen ganz persönlichen Lehrplan – auch wenn die Klasse etwas anderen mache, muss dieser im Unterricht verfolgt werden. Die Frage, wie das funktionieren wird, sei häufig Thema in der Familie. Nathalie, mit 17 die ältere der beiden Töchter, hat sich schon entschieden: Schaustellerin will sie werden, der Hauptschulabschluss sei genug. Nadja überlegt noch. "Auch in unserem Beruf wird immer mehr gefordert", sagt ihr Vater, spricht von Marketing, dem immer enger werdenden Markt, dem Umstand, dass bei den Besuchern "das Geld nicht mehr so locker ist" und dass es in den Städten immer mehr Feste gibt, so dass der Jahrmarkt einen anderen Stellenwert bekommt. "Schwierig" ist eine Vokabel, die in diesem Zusammenhang immer wieder fällt. Mit einem guten Schulabschluss böten sich mehr Möglichkeiten, erklärt Petra Horlbeck. Ist das auch Angst vor der Zukunft? "Vielleicht." Eines aber sei sicher. "Wir sind mit Leib und Seele Schausteller. Wir wollen auch nichts anderes."
Der Jahrmarkt gastiert mit 100 Geschäften bis Sonntag, 24. April, auf dem Wilhelmplatz. Heute ist Familientag mit günstigeren Preisen.
Von Annemarie Heckmann
nordClick/Kieler Nachrichten vom 21.04.2005 01:00
70 Schulwechsel bis zum Hauptschulabschluss, keine feste Klasse, aber eine verlässliche Clique und das Gefühl, immer etwas Besonderes zu sein – so beschreibt Andreas Horlbeck die Erinnerung an seine Schulzeit.
Der 41-Jährige ist Schausteller, zurzeit gastiert er mit Familie und seiner Basketballwurfanlage und dem "Greifer" auf dem Wilhelmplatz. Sein Wunsch: Seine Töchter sollen mehr von der Schule haben. Mehr von der Schule – das heißt in diesem Fall weniger Wechsel. Petra Horlbeck, die wie ihr Mann auch in einer Schaustellerfamilie groß geworden ist, hat mit einer weiteren Mutter eine Fahrgemeinschaft gegründet. Jeden Tag pendeln sie mit fünf Kindern von Kiel nach Neumünster zur "Stammschule". In Neumünster sind ihre Familien gemeldet, leben dort während der drei Wintermonate. Über 25 Kinder, die derzeit mit den Eltern auf dem Jahrmarkt zu Gast sind, müssen zu Schule, ein großer Teil wird die zehn Tage in einer in Kiel lernen. "Besser" findet die 14-jährige Tanja die Fahrerei nach Neumünster. Ihre Freunde sehe sie, es gebe eine Klassengemeinschaft, sie gehöre dazu. Nur wenn der Weg nach Neumünster zu weit ist, muss sie in andere Schule, in Heide, Schleswig, Itzehoe etwa. Stützpunktschulen werden die genannt, dort sind die Kinder jeweils für ein paar Tage zu Gast. Zu wenig, um wirklich kontinuierlich lernen zu können.
Ihre Eltern haben dies noch ganz anders erlebt. Schausteller zu sein, war alles, Freunde, Familie alle kamen aus diesem Umfeld und Berührungspunkte mit "Privatleuten" gab es kaum. Und Schule? "Das war nicht so wichtig", sagt Andreas Horlbeck. Klar sei gewesen, dass sie keinen Schulabschluss brauchen. Das Schaustellergewerbe sei Handwerk. Was an Wissen notwendig sei, werde auf dem Platz vermittelt. Und wer erwachsen wurde, übernahm ein Geschäft von den Eltern oder heiratete ein. Schule, das waren oft nicht mehr als die Stempel in einem Heft, mit der die Anwesenheit dokumentiert wurde. Auch heute wird kein Schulabschluss benötigt, um Schausteller zu sein. Schule aber ist anders geworden, sagt Horlbeck, der zugleich Bundes-Schulbeauftragter des Deutschen Schaustellerbundes ist. Gesucht war eine bessere Lösung als der ständige Wechsel. Eine Idee war es, die Schule zu den Kindern zu bringen. "Nicht umsetzbar", so das Fazit. Seit 1997 geht man in Schleswig-Holstein einen anderen Weg mit dem Lernen auf der Reise. Statt in den Klassen nur die Anwesenheit zu bestätigen, gibt es nun ein Schultagebuch, in der die Lehrkräfte das dokumentieren, was durchgenommen wurde. "Kontinuität entsteht aber so lange nicht". Ab dem kommenden Schuljahr soll nun bundesweit ein ganz neues Modell starten: Jeder Schüler hat einen ganz persönlichen Lehrplan – auch wenn die Klasse etwas anderen mache, muss dieser im Unterricht verfolgt werden. Die Frage, wie das funktionieren wird, sei häufig Thema in der Familie. Nathalie, mit 17 die ältere der beiden Töchter, hat sich schon entschieden: Schaustellerin will sie werden, der Hauptschulabschluss sei genug. Nadja überlegt noch. "Auch in unserem Beruf wird immer mehr gefordert", sagt ihr Vater, spricht von Marketing, dem immer enger werdenden Markt, dem Umstand, dass bei den Besuchern "das Geld nicht mehr so locker ist" und dass es in den Städten immer mehr Feste gibt, so dass der Jahrmarkt einen anderen Stellenwert bekommt. "Schwierig" ist eine Vokabel, die in diesem Zusammenhang immer wieder fällt. Mit einem guten Schulabschluss böten sich mehr Möglichkeiten, erklärt Petra Horlbeck. Ist das auch Angst vor der Zukunft? "Vielleicht." Eines aber sei sicher. "Wir sind mit Leib und Seele Schausteller. Wir wollen auch nichts anderes."
Der Jahrmarkt gastiert mit 100 Geschäften bis Sonntag, 24. April, auf dem Wilhelmplatz. Heute ist Familientag mit günstigeren Preisen.
Von Annemarie Heckmann
nordClick/Kieler Nachrichten vom 21.04.2005 01:00